Als ich den oberen Teil des Gebäudes zuerst erblickte, hatte ich auf einem Parkplatz vor dem Bayreuther Bahnhof angehalten, um mich zu orientieren. Deshalb glaubte ich, in einiger Entfernung den Giebel eines Lokschuppens oder einer Wagenhalle der Bahn zu sehen. Das ist wirklich kein Scherz, und bitte verzeiht mir die Respektlosigkeit, die ich hier gleich offenbaren muß.
Da ich ohnehin schon in der Nähe vorbei kam, wollte ich ein weiteres berühmtes Bauwerk besichtigen, das mit Hilfe eines bayerischen Königs entstand. Dieses Mal galt mein Interesse der Mitwirkung des Enkels des im vorigen Post erwähnten Ludwig I. von Bayern. Ludwig II. ist als Förderer der Künste und Eigentümer einer geradezu überbordenden Fantasie und Baulust in die Geschichte eingegangen und hat immer noch einen Platz im Herzen vieler Bayern als ihr "Kini".
Das Gebäude, das hier in Bayreuth mit einem großzügigen Kredit des Königs entstand, war ein Opernhaus, allein und exklusiv von seinen Protegé Richard Wagner geplant und nur für die Aufführung seiner eigenen Werke gedacht. Dieses von mir zunächst mißinterpretierte Bauwerk ist also eigentlich - und tatsächlich! - ein Lock-Schuppen und eine Wagner-Halle. Die Aufführungsstätte für Wagnersche Opern lockt noch heute, 141 Jahre nach ihrer Einweihung und 134 Jahre nach dem Tod des Komponisten, jeden Sommer tausende Musikliebhaber aus aller Welt zu den Bayreuther Festspielen und der Aufführung der zehn Hauptwerke des Meisters. Noch immer regiert auf dem "Grünen Hügel" in Bayreuth der Wagner-Clan das Festspielgeschehen, inzwischen in der dritten Generation nach dem Tod des Gründers dieses Familienbetriebes.
Ich bin kein besonderer Liebhaber und Kenner von Opern, auch nicht der Werke von Wagner. Meine Fähigkeit, den außerordentlich umfangreichen Tondichtungen aufmerksam zu lauschen, reicht nicht weit über die Ouvertüren oder - vom Meister Wagner so genannten - Vorspiele hinaus. Kürzlich hatte ich bei der Eröffnung der diesjährigen Festspiele die Gelegenheit, eine Live-Übertragung der "Meistersinger" im Radio zu hören. Sogar mit der Möglichkeit, dem Gesang durch Mitlesen des Librettos zu folgen, erlahmte meine Aufmerksamkeit nach zwei Stunden. Und das ganze Werk dauert dreieinhalb Stunden, die Erholungspausen zwischen den Aufzügen nicht mitgerechnet. An der Stelle wurde mir bewußt, welche Leiden beispielsweise eine Bundeskanzlerin zu ertragen hat, deren Präsenz bei solch einer Premiere erwartet wird.
Seit die Kaiser Wilhelm I. im Jahr 1876 und Wilhelm II. im Jahr 1889 die Eröffnung der Festspiele mit ihrer Gegenwart "geadelt" haben, ist es für Leute "von Stand" Brauch, Sitte und Verpflichtung, bei den Festspielen zu erscheinen. Nicht selten war in dieser Gesellschaftsklasse auch ein ausgeprägter Antijudaismus oder Antisemitismus anzutreffen, der mit der offen bekannten Haltung von Meister Wagner durchaus korrespondierte.
Diese Geisteshaltung Wagners hinsichtlich der Ablehnung von Juden kulminierte vor und während des Dritten Reichs, als sich die Familie Wagner den "Onkel Wolf" zum Freund machte - oder umgekehrt. Schon lange vor seiner Machergreifung im Jahr 1933 war Adolf Hitler häufiger und gern gesehener Gast auf dem Grünen Hügel und ließ sich im Kreis der Familie mit "Wolf" anreden. Die innigen Bande zwischen dem "Führer" und den Wagners führten 1936 sogar dazu, daß die Festspiele in Bayreuth während der Olympischen Spiele in Berlin unterbrochen wurden. "Onkel Wolf" fuhr mit seinem Sonderzug direkt aus Bayreuth zur Erföffnung der Spiele nach Berlin, und er kehrte nach dem Ende der Sportwettkämpfe zur Fortsetzung der Opernspiele nach Bayreuth zurück.
Die Nähe der Familie Wagner zum Naziregime hinterließ einen braunen Fleck auf dem Namen Wagner, seinen Werken und den Festspielen. In diesem Jahr 2017 mußte es der Komponist, vertreten durch eine von Arno Breker geschaffene Büste im Park vor dem Festspielhaus, nun erdulden, daß ihm die Tafeln einer Ausstellung zum Thema des Schicksals jüdischer Künstler im Zusammenhang mit den Bayreuther Festspielen direkt vor die Nase gestellt wurden.
Die Ausstellung "Verstummte Stimmen - Die Bayreuther Festspiele und die 'Juden' 1876 bis 1945" beschreibt die Vertreibung jüdischer Künstler aus deutschen Opernhäusern und Theatern. Zu diesem Bemühen, "deutsche Kultur" vor der "Zersetzung" zu retten, gilt Richard Wagner als einer der Stichwortgeber. Schon 1850 hatte er in einem Aufsatz gegen "Das Judenthum in der Musik" gehetzt. Die Ausstellung zeigt, wie seine Erben durch Diffamierung und Ausgrenzung jüdischer Künstler die Festspiele mißbraucht und damit der staatlichen Verfolgung im Dritten Reich den Boden bereitet haben.