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Atombombentest auf dem Bikini-Atoll (Quelle: Wikipedia) |
Vor etwas mehr als 75 Jahren gelang es Wissenschaftlern in den USA, in einem behelfsmäßig zusammengebastelten Atomreaktor in Chicago die erste menschengemachte nukleare Kettenreaktion zu erzeugen und für kurze Zeit zu erhalten. Diese Wissenschaftsleistung war ein wichtiger Schritt für die Entwicklung der ersten Atombomben, die dann im August 1945 auf Japan abgeworfen wurden.
Es waren die Nazis selbst und die italienischen Faschisten, die zu diesem Entwicklungssprung in der Kernforschung beigetragen haben, und das war ganz sicher nicht ihre Absicht.
Der Versuch am 2. Dezember 1942 wurde geleitet von Enrico Fermi, der als einer der bedeutendsten Kernphysiker des 20. Jahrhunderts angesehen wird. Er war mit einer Jüdin verheiratet, das Ehepaar hatte zwei Kinder. Im Jahr 1938 wurde Fermi mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet, und im gleichen Jahr emigrierte er wegen der vom Mussolini-Regime erlassenen antisemitischen Gesetze mit seiner Familie in die USA.
Der als "Chicago Pile No. 1" bekannt gewordene Haufen von Uran und Graphitziegeln, gilt als erster menschengemachter Kernreakter der Geschichte. Er entstand nach theoretischen Vorarbeiten des Ungarn-Deutschen Leo Szilárd, dem Sohn einer osteuropäischen jüdischen Familie, der in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Deutschland Physik studiert hatte, unter anderen auch bei Albert Einstein und Max Planck. 1932 hatte sich Szilárd ganz der Kernphysik zugewandt und bereits Versuche im Labor von Lise Meitner geplant, als er nach der Machtergreifung der Nazis 1933 Deutschland verließ. Er gelangte zunächst nach England, wo er seine wissenschaftlichen Arbeiten fortsetzte. Dort beschrieb er als erster Forscher die nukleare Kettenreaktion, die Grundvoraussetzung für die Nutzung von Kernenergie und Kernwaffen. Wegen drohender Kriegsgefahr ging er 1938 in die USA.
Etwa gleichzeitig deutete die österreichische Physikerin Lise Meitner als erste ein Forschungsergebnis von Otto Hahn als das, was es war: eine Kernspaltung. Meitner war seit 1926 außerordentliche Professorin für experimentelle Kernphysik an der Berliner Universität, Deutschlands erste Professorin für Physik gewesen. Im April 1933 wurde Meitner aufgrund ihrer jüdischen Abstammung die Lehrbefugnis entzogen. Danach arbeitete sie an dem nicht-staatlichen Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin. Als Österreich 1938 an das Deutsche Reich angeschlossen und Meitner damit deutsche Staatsangehörige wurde, floh sie nach Schweden. Ihr Kollege Otto Hahn blieb mit Meitner in geheimer brieflicher Verbindung und forschte am Kaiser-Wilhelm-Institut weiter. Im Dezember 1938 entdeckt er die Kernspaltung, wies sie mit radiochemischen Methoden nach und berichtete Lise Meitner davon. Was Hahn noch als unerklärliches "Zerplatzen" eines Urankerns beschrieb, konnte Meitner 1939 richtig als Kernspaltung deuten und einen wissenschaftlichen Artikel darüber veröffentlichen.
Albert Einstein hatte bereits im Jahr 1939 mit einem Brief den US-Präsidenten Roosevelt vor der möglichen Entwicklung von Atomwaffen in Deutschland gewarnt. Um den Nazis in Deutschland zuvorzukommen, wurde beschlossen, die Entwicklung von Atomwaffen voranzutreiben und das geheime Manhattan Projekt zu starten. Nach dem Chicagoer Experiment arbeitete Leo Szilárd an diesem Projekt seit 1942 mit. Seine Kollegen waren drei Wissenschaftler, die einen ganz ähnlichen Lebenslauf hinter sich hatten:
Der später als der "Vater der Wasserstoffbombe" bekannt gewordene Physiker Edward Teller hatte in Karlsruhe und Leipzig studiert und Deutschland 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft verlassen.
Der Mathematiker John von Neumann entstammte einer jüdischen Bankiersfamilie. Nach Studien in Deutschland und der Schweiz hatte er als Privatdozent an der Berliner Universität und der Hamburger Universität gearbeitet. Ab 1933 arbeitete er als Professor in Princeton, wo auch bereits Albert Einstein wirkte. Nach der Machtergreifung der Nazis emigrierte Neumann ganz in die USA.
Der Theoretische Physiker Eugene Wigner entstammte ebenfalls einer jüdischen Familie und hatte in Deutschland studiert und wissenschaftlich gearbeitet. Er habilitierte sich 1930 an der Technischen Hochschule Berlin und wurde dort zum außerordentlichen Professor ernannt. Diese Position verlor er nach der Machtergreifung durch die Nazis 1933 und siedelte darauf in die USA über, wo er als Professor an der Princeton University arbeitete.
Wir halten also fest:
Bis hier sind wir schon sechs hochrangigen deutschsprachigen Wissenschaftlern begegnet - Meitner, Einstein, Szilárd, Teller, Neumann und Wigner, dazu dem Italiener Fermi -, die wegen der Judenverfolgung aus Europa verjagd wurden oder aus Deutschland weggingen, und da waren noch viel mehr. Das war ein gewaltiger Verlust an Forschungskompetenz, von der ein Teil stattdessen in den USA für die Entwicklung der Atombombe genutzt wurde.
Und im Nachhinein muß man zu dem Schluß kommen, daß das so gut war. Hätte das wissenschaftliche Potential in Europa und namentlich in Deutschland zur Verfügung gestanden, wäre dem Nazi-Regime womöglich so rechtzeitig eine Atomwaffe in die Hände gefallen, daß das zu einem völlig anderen Ergebnis des Zweiten Weltkriegs geführt hätte. Angesichts ihrer desolaten militärischen Lage hätten die Nazis die Waffe eingesetzt, allein um zu zeigen, daß sie existiert und wie sie wirkt. London und Moskau hätten die ersten Ziele sein können, womöglich auch New York.
Die Phantasie will nicht ausreichen, sich vorzustellen, was eine Weltherrschaft der Nazis bedeutet hätte.
Die Japaner in Hiroshima und Nagasaki kommen verständlicherweise zu einer anderen Schlußfolgerung, und man kann auch daran zweifeln, daß die Verfügungsgewalt über die ersten Atomwaffen bei den USA gut aufgehoben war. Zumindest weiß man heute aber, daß die USA nicht versucht haben, die Weltherrschaft mit militärischer Gewalt und dem Einsatz von weiteren Kernwaffen zu erringen.
Der radikale Antisemitismus und die Judenverfolgung der Nazis hat in Deutschland und ganz Europa auf allen Gebieten der Wissenschaft und Forschung, in der Medizin, dem Ingenieurwesen, in der Wirtschaft, der Politik, und nicht zuletzt im Kulturleben und in der Kunst zu einem unersetztlichen Verlust an Geistespotential geführt. Mir ist gänzlich unverständlich, warum die "neuen" Nazis daraus nichts gelernt haben. Am Beispiel der Forschung, die zur Atombombe geführt hat, müßte ihnen doch mehr als siebzig Jahre danach schon mal ein Licht aufgegangen sein,
Wir anderen müssen uns womöglich glücklich schätzen, daß sich die damalige "Herrenrasse" mit ihrer Wahnsinnspolitik gegen "Untermenschen" selbst ins Knie geschossen hat. Wir sind aber auch gefordert, dafür zu sorgen, daß neue Antisemiten und Rassisten gar nicht erst in eine Position der Macht kommen.
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